Warum gerade Aufklärung? Warum schmücken wir uns mit diesem „schillernden Wort“?
Das tun wir gerade nur so lange, als wir es als Fremdwort begreifen, als Fremdkörper, der mit uns selbst nichts zu tun hat, sondern eine historische Epoche bezeichnet, ein Vergangenes. Wir schmücken uns (bloß) damit, solange wir diesen Begriff unseren eigenen Worten nur beigesellen, um ihnen so den Anstrich der Intellektualität zu geben.
Wir können viel Immanuel Kant zitieren, viel das Selbstdenken heraufbeschwören, als Phrase, als Gewohnheit, ohne es dabei doch eigentlich ernst zu meinen. Und wir merken es dabei nicht einmal – denn längst glauben wir, schon aufgeklärt zu sein, die Epoche der Aufklärung überwunden und aufgehoben zu haben. Schließlich haben wir uns von der Kirche gelöst und leben im Zeitalter der Wissenschaft!
Leider müssen wir davon ausgehen, dass dem nicht so ist. Kennzeichnend für die Aufklärung ist gerade, sie als Prozess zu begreifen, als Weiter-Denken – nicht aber als einen Zustand des Aufgeklärt-Seins. Denn so wird der Begriff der Aufklärung zum Mythos des „aufgeklärten Zeitalters“ und damit auch zum erstarrten Dogma – er verliert seinen inhaltlichen Kern, der auf Veränderung und Aufbruch setzt.
Der erstrebte Zustand der Klarheit ist keiner, den man lange festhalten kann, er muss im Gegenteil immer wieder neu erstrebt werden. Denn die Gesellschaft verändert sich, Neues wird zu Altem und fortschrittliches, lebendiges Quer-Denken wird Schulbuchwissen, Gewohnheitstatsache – und bremst das Wieder-Neue aus.
Wir müssen daher die Aufklärung heute anders denken, sie auf unsere Zeit übertragen. Wollen wir Lösungen finden für die drängenden Probleme unserer Zeit (die zu immensen globalen Problemen angewachsen sind), müssen wir mit unseren Fragen bei dem ansetzen, was uns heute selbstverständlich scheint. Wir müssen uns fragen, wer heute die Autoritäten sind, die uns das Denken abnehmen und vermeintliche Wahrheiten predigen. Wollen wir aufgeklärte Menschen sein, können wir ihnen kein blindes Vertrauen schenken – auch wenn es bequem ist.
Wir müssen den Mut aufbringen, wirklich selbst zu denken und die Gedankengänge anderer zu hinterfragen – auch wenn es Mühe macht. Wir müssen vor allem ehrlich zu uns selbst sein und aufhören, uns hinter einem vermeintlich aufgeklärten, idealen Scheinbild unserer selbst (vor uns selbst) zu verstecken. Denn Aufklärung heißt vor allem: sich selbst aufklären, zu klarem Bewusstsein kommen – nicht aber sich von selbsternannten „Experten“ aufklären zu lassen.
Wir wollen vor uns selbst ehrlich zugeben, welche unserer Gedanken wirklich unsere eigenen sind und welche wir bequemerweise etwa aus Zeitungen, Fernsehen oder Freundeskreis übernommen haben. Haben wir den Mut, uns selbst zu erkennen, erlangen wir auch die Fähigkeit klar zu sehen und uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen.
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